Warum gerade ich ?

Warum trifft es ausgerechnet mich? Trotz meiner gesunden Lebensweise und meiner Achtsamkeit auf meine Gesundheit, kann ich das einfach nicht begreifen? Diese Fragen begegnen mir oft bei Patienten, die mit Krebs konfrontiert sind.
von Christina Fried - 19. Oct 2023
Christina Fried

Es gibt zahlreiche Menschen, die fest daran glauben, dass alles im Leben einen tieferen Sinn hat. Die Idee eines Zusammenhangs zwischen psychischen Belastungen und Krebserkrankungen ist keineswegs neu, aber nicht wissenschaftlich bewiesen. 

Meine Patienten beschäftigen sich nahezu ständig mit existenziellen Fragen und sehnen sich nach klaren Antworten und einer klaren Lebensrichtung. 

Genau das ist es, was die Arbeit in der Trauer- und Sterbebegleitung für mich so fesselnd und erfüllend macht. Einige Patienten stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie bereits viele verschiedene Ansätze ausprobiert haben und mit herkömmlichen Lösungen oder bewährten Interventionen nicht zufrieden sind. Vor Kurzem erlebte ich Ähnliches mit einem meiner Patienten, Herrn "Müller" (der Name wurde aus Datenschutzgründen geändert).

Also entschloss ich mich, mich der Herausforderung zu stellen, wie bei jeden meiner Patienten: "Die Entstehung von Krebs ist ein komplexer Prozess, der von vielen Faktoren beeinflusst werden kann. Oft ist es schwer, einen bestimmten Grund festzustellen, aber da Sie eine Antwort von mir erwarten, gibt es hier nur eine Antwort." Mein Patient schaute mich erwartungsvoll an. 

Bei diesem Gespräch wandte ich eine paradoxale Methode an, um das Unbewusste des Patienten anzusprechen - ich musste seine vollste Aufmerksamkeit gewinnen. 

"Weil Sie schlichtweg vom Schicksal nicht verschont geblieben sind". Warum habe ich diese Antwort gegeben, die zweifellos als provokant aufgefasst werden konnte? Der effektivste Weg, um tiefgreifende Einsichten zu erlangen, kann durch starke emotionale Erfahrungen geschaffen werden, wie in diesem Fall, durch eine sanfte Erschütterung durch diese Aussage. Nachdem ich nun seine volle Aufmerksamkeit hatte, rief ich ihm all die glücklichen Augenblicke aus seiner bisherigen Lebensreise ins Gedächtnis – seine behütete Kindheit, seine liebevolle Familie und seinen erfüllenden Beruf. 

Ich verdeutlichte ihm, dass das Leben unvorhersehbar ist und sich nicht nach unseren Wünschen und Vorstellungen richten lässt. Vielmehr sollte er verstehen, dass es nicht darum geht, alles perfekt zu machen, um das Leben zu kontrollieren. Ich schlug ihm vor, sich seiner Verletzlichkeit bewusst zu werden und den Satz "Ich bin verletzlich" immer wieder zu wiederholen.

Bei Herrn Müller traten plötzlich Tränen in die Augen, glitzernd fallen die Tränen vor mir zu Boden, er blickt zu mir auf, alles scheint düster für ihn und er sagte dann: "Diese Dunkelheit verschlingt mich, ich wurde so erzogen und habe gelernt, dass es auch eine Art von Schwäche ist, verletzlich zu sein." Darauf entgegnete ich " Sie haben allerdings keine Erfahrung darin gesammelt, mit Unsicherheiten und emotionalen Risiken umzugehen. Ihr Streben besteht darin, ein Leben zu führen, in dem Sie alles einwandfrei erledigen und in dem Sie unverwundbar wirken möchten. Das ist ein Vorhaben, dass nicht gelingen kann."

Der Patient blieb eine gefühlte Ewigkeit völlig ruhig, und ich überlegte, wie ich ihm noch deutlicher vermitteln könnte, was ich meine. Plötzlich sagte er zu mir: "Vielleicht haben Sie recht. Ich habe meine Verletzlichkeit unterdrückt und nicht zugelassen. Ich habe unermüdlich nach kreativen Wegen gesucht, um meine Verletzlichkeit zu umgehen." 

"Und jetzt erfahren Sie durch Ihre Krebserkrankung, dass auch Sie verwundbar sind und Unterstützung benötigen, Sie sind gefangen in Ihrem Gedankenlabyrinth, obwohl um Sie so viele Menschen sind, fühlen Sie sich alleine, keiner versteht, was in Ihnen vorgeht", entgegnete ich ihm........

Wir sind Experten darin, Strategien zu entwickeln, um unsere Verletzlichkeit zu umgehen. Wir bemühen uns, uns abzuschirmen ("Das lässt mich kalt"), uns selbst zu betäuben, indem wir sagen: "Ich könnte jetzt ein Getränk gebrauchen" oder auch zu leugnen, indem wir uns fragen: "Warum sollte mich das überhaupt kümmern?"  oder indem Sie Zynismus und Coolness verwenden, indem Sie sich selbst sagen: "Entspann dich, mach dir keinen Kopf".

Die Vermeidung unangenehmer Gefühle von Verletzlichkeit geht oft Hand in Hand mit der Unterdrückung aller anderen Emotionen. Das wiederum bedeutet, dass wir uns nicht nur vor Verletzlichkeit schützen, sondern gleichzeitig auch von unserer Empathie, unseren zwischenmenschlichen Bindungen, unserem Zugehörigkeitsgefühl und damit auch von unserer inneren Stärke und Authentizität entfremden.

Es erfordert Stärke, Verletzlichkeit zuzulassen, das erfordert aber auch Mut. Eine tiefere Verletzlichkeit kann Offenheit, Verbundenheit und Empathie offenbaren. 

Die Akzeptanz von Verletzlichkeit ist ein lebenslanger Prozess, der aus kleinen Schritten besteht. Zeigen Sie Verletzlichkeit, sie trägt maßgeblich zur Schaffung von Vertrauen und erfolgreichen zwischenmenschlichen Beziehungen bei.

Gerne stehe ich Ihnen zur Seite, um Sie auf Ihrem Weg zur Selbstakzeptanz und beim Aufbau von Vertrauen zu begleiten und zu unterstützen.